Wo straffällige Ausländer herkommen

(NZZ am Sonntag, Lukas Häuptli)  

Die Frage erhitzt die Gemüter, seit die Ausschaffungsinitiative am 1. Oktober 2016 in Kraft getreten ist: Wie viele straffällige Ausländer, die gemäss der SVP-Initiative ausgeschafft werden müssten, werden nicht ausgeschafft, sondern können dank der sogenannten Härtefallregel weiter in der Schweiz bleiben? Die Regel soll, so steht es im Gesetz, lediglich in Ausnahmefällen zur Anwendung kommen. Im letzten Frühling veröffentlichte das Bundesamt für Statistik erste Zahlen dazu. Später korrigierte es diese, nochmals später zog es sie wieder zurück. Die Folge war ein Sturm medialer und politischer Empörung – einerseits wegen der «Verrechner vom Dienst» (wie der «Blick» die Mitarbeiter des Amtes nannte), andererseits weil die Zahlen zeigten, dass die Ausnahme eher die Regel war: Je nach Berechnung bewegte sich die Härtefall Quote, also der Anteil der tatsächlich verhängten Landesverweisungen an allen Landesverweisungen, welche die Ausschaffungsinitiative im Grundsatz vorschreibt, zwischen 31 und 46 Prozent.

«Nationalität gewechselt»

Jetzt hat das Bundesamt für Statistik zum zweiten Mal Zahlen veröffentlicht. Diese zeigen: Die Schweizer Gerichte haben letztes Jahr gegen 1039 Ausländer eine Landesverweisung verhängt. Von diesen stammen 348 aus Balkanländern, die nicht zur EU gehören (vgl. Grafik), zum Beispiel aus Kosovo, Albanien, Serbien, BosnienHerzegowina oder Mazedonien. Das Bundesamt verzichtet in seiner Statistik auf eine genauere Aufteilung nach Staaten, weil in den Angaben der Gerichte immer wieder «unplausible Nationalitätenwechsel» von Verurteilten auftauchten. Daneben kommen überdurchschnittlich viele straffällige Ausländer, die 2017 zu einer Landesverweisung verurteilt wurden, aus nordafrikanischen Staaten (beispielsweise Marokko, Algerien oder Tunesien), aus Rumänien, aus Westafrika (Nigeria oder Gambia) und aus der ExUdSSR (Russland oder Georgien). Bemerkenswert ist an den Zahlen: Die Schweizer Gerichte Wo straffällige Ausländer herkommen haben letztes Jahr auch gegen 279 EU-Bürger Landesverweisungen verhängt. Es ist umstritten, ob diese nicht gegen das Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EU verstossen. Das Abkommen sieht nämlich vor, dass eine Person nur weggewiesen werden darf, wenn sie eine «schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung» ist. Von den Ausländern, die letztes Jahr aus der Schweiz verwiesen wurden, hatten allerdings weniger als 10 Prozent eine schwere Straftat wie ein Tötungsdelikt, eine schwere Körperverletzung oder eine Vergewaltigung begangen. Die restlichen mehr als 90 Prozent aber begingen leichte bis mittelschwere Diebstahl und Drogendelikte. Ob diese die öffentliche Ordnung «schwer» gefährden, ist fraglich. So hob das Zürcher Obergericht im August 2017 denn auch die Landesverweisung gegen einen 27jährigen Deutschen wieder auf. Der Mann war vom Bezirksgericht Winterthur wegen eines sogenannten Angriffs zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt und des Landes verwiesen worden. Das gehe nicht, urteilte das Obergericht, weil die Landesverweisung eines EU-Bürgers, der keine «schwere Gefährdung der öffentlich Ordnung» sei, gegen das Freizügigkeitsabkommen verstosse. Das Abkommen wiederum sei ein völkerrechtlicher Vertrag und gehe der Bundesverfassung und dem Bundesrecht vor. Das Urteil des Obergerichts ist allerdings noch nicht rechtskräftig; der Fall ist vor Bundesgericht hängig.

Viele Kriminaltouristen

Nur 42 der 1039 Landesverweisungen betrafen Ausländer, die hier eine Aufenthaltsoder Niederlassungsbewilligung hatten und damit länger in der Schweiz lebten (vgl. Grafik). Alle anderen Wegweisungen wurden in erster Linie gegen Ausländer verhängt, die sich hier illegal aufhielten. Dazu zählen unter anderem Kriminaltouristen.Womöglich muss das Bundesamt für Statistik ein drittes und allenfalls ein viertes Mal Zahlen zum Thema veröffentlichen. So ist noch immer nicht klar, wie hoch die politisch umstrittene Härtefall Quote genau ist. Dabei ist unter anderem die Frage entscheidend, ob bei einer Verurteilung wegen einfachen Betrugs automatisch eine Landesverweisung ausgesprochen werden muss oder nicht. Ebenfalls noch unklar ist, wie viele der verhängten Landesverweisungen tatsächlich vollzogen werden und wie viele nicht. «Diese Daten haben wir bis jetzt nicht ausgewertet», sagt Isabel Zoder vom Bundesamt für Statistik. Das Amt müsse diese Angaben zuerst auf Vollständigkeit, Qualität und Aussagekraft prüfen. «Das wird noch Zeit in Anspruch nehmen.»

Ausschaffungen Konsequenterer Vollzug gefordert

Die Ausschaffungsinitiative, ihre Umsetzung und ihre Anwendung haben eine mittlerweile mehr als zehnjährige Geschichte. 2007 begann die SVP mit der Unterschriftensammlung, 2010 nahmen die Stimmberechtigten die Initiative an, 2016 trat sie in Kraft. Allerdings sind noch immer Vorstösse von SVP- und FDP-Parlamentariern zum Thema hängig. So hatte SVP-Nationalrat Felix Müri schon 2013 verlangt, dass der Bund eine Vollzugsstatistik zur Ausschaffung krimineller Ausländer erstellt. Das Parlament nahm seinen Vorstoss ein Jahr später an, die Statistik gibt es allerdings noch immer nicht. FDP-Ständerat Philipp Müller wiederum forderte im letzten Frühling einen konsequenteren Vollzug von Landesverweisungen. Der Ständerat nahm seine Motion letzten Monat an; jetzt muss der Nationalrat darüber befinden. (luh.)